Unsere Kultur der Belästigung und der Tod von Tuğçe Albayrak

Letzte Woche ist eine Tochter, Schwester, Freundin, Kommilitonin und mutige Helferin von uns gegangen, Tuğçe Albayrak,  eine junge Frau, die noch viel vorhatte in einem Leben, das viel zu früh endete. Seitdem wird getrauert, der Familie Beistand gewünscht, im Netz nicht enden wollende Solidarität bekundet, Zivilcourage erneut diskutiert – national und international.

Via facebook.com/pages/Tuğçe-zeigte-Zivilcourage-zeigen-wir-Ihr-unseren-Respekt

Eko Fresh (via facebook.com/pages/Tuğçe-zeigte-Zivilcourage-zeigen-wir-Ihr-unseren-Respekt)

Wichtige Überlegungen zum Einschreiten in Gefahrensituationen und über aktives Handeln und Zivilcourage nach der Betroffenheit lieferte Heng in einem wichtigen Text für das Missy Magazine. „Das Mindeste, das Tuğçe von uns verdient, ist nicht nur Respekt, sondern auch das Überdenken eigener Handlungen, die Erhöhung einer allgemeinen Aufmerksamkeit und den Mut, selbst zu intervenieren“, schreibt sie, und ich stimme voll zu.

Was ebenfalls überdacht werden sollte: Der kulturelle Zusammenhang des gewaltvollen Übergriffs, der eben nicht in einem luftleeren Raum stattgefunden hat, sondern in einer Gesellschaft, die nach wie vor die Belästigung von *Frauen und *Mädchen als gängiges Verhaltensrepertoire vorsieht, die Rape Culture prägt und Victim Blaiming betreibt. Tuğçe Albayrak ist gestorben, weil sie an einem öffentlichen Ort junge Mädchen vor Übergriffigkeiten geschützt hat. Wenn junge Mädchen an einem so öffentlichen (!) Ort wie einer McDonalds-Filiale belästigt werden, wenn sich dort bis auf eine junge Frau wie Tuğçe und ihre Freundinnen niemand daran stört dass es einen hörbaren Übergriff gibt, wenn niemand einschreitet außer eben beherzte Gäst_innen, dann hat das nichts mehr mit tragischen Zufälligkeiten und Einzelfallausrastern zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, die derartige Übergriffe bagatellisiert und patriarchale Denkmuster stützt und Mikroaggressionen gegen alles, was nicht cismännlich ist, befeuert, und zwar: Immer, überall. Eine Gesellschaft, in der rüpelnde junge Männer als Normalfall und einschreitende Helfer_innen als Ausnahme gelten. Eine Gesellschaft, die *Frauen und *Mädchen objektifiziert und zu Dingen degradiert, die man jederzeit belästigen, angaffen, anbaggern, anquatschen, mit übergriffigem Verhalten behelligen kann.

Am Wochenende äußerte sich der Rapper Haftbefehl bestürzt und selbstkritisch zum Tod der jungen und mutigen Frau. „Ich musste lange nachdenken, ob ich diese Musik so weitermachen kann“, soll der Rapper gesagt haben – ein Selfie des jungen Schlägers mit dem Musiker war im Netz aufgetaucht. Nun wird der Rapper – ebenso wie seine Kollegen – natürlich nicht Kernauslöser des tragischen Todes Tuğçe gewesen sein. Dennoch fällt auch seine Musik in einen Wirkungsbereich, der männliche Gewalt glorifiziert und frauenfeindliche Diskurse kultiviert.

Es sind dennoch vor allem auch Hip Hopper in der letzten Woche gewesen, die mehrfach – und mitfühlend – ihre Bestürzung über den Tod Tuğçes bekundeten. Die Ambivalenz dieser Zusammenhänge zwischen Personen und Trauer beschäftigen jedoch auch die Rezipient_innen. Auf Haftbefehls Facebook-Seite etwa schrieb ein User unter der Kondolenzbekundung von Haftbefehl: „Wieso postest du auf der einen Seite so etwas (Respekt dafür) und auf der anderen Seite bringst Du ein Video zu „Lass die Affen aus dem Zoo“ in dem sich alle sinnlos gegenseitig auf die Fresse schlagen?“ Es herrscht allgemeine Ratlosigkeit, und dennoch: Es wäre wünschenswert, wenn die Debatte in Teilen der Szene nicht nur mit einigen Facebook-Postings endet.

Interessanterweise fiel insbesondere im englischsprachigen Raum in den letzten Tagen immer wieder der Begriff „Harassment„, wenn über den Tod der jungen Studentin berichtet wurde – deutschsprachige Medien haften derweil immer noch sehr an der Fokussierung auf „Zivilcourage“. Dabei sollte m.E. die Debatte, die nun mit Sicherheit (und notwendigerweise) länger betrieben wird, nicht nur „Courage“ zum Kernthema haben – sie sollte sich insbesondere auch auf Misogynie, (Cis-)Sexismus und Gewalt gegen Frauen konzentrieren. Denn der junge Mann, der für Tuğçes Tod verantwortlich ist, steht nicht für einen individuellen Ausraster: Er steht für ein Gesellschaftsmuster, das bist heute in den Köpfen verankert ist.

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6 Gedanken zu „Unsere Kultur der Belästigung und der Tod von Tuğçe Albayrak

  1. […] Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen forderte er hingegen nicht. Wir müssen darüber reden, welche Strukturen es sind, die ein Klima der Gewalt ermöglichen, nicht so sehr darüber, wie dem im Einzelfall begegnet werden kann. Vor dem Hintergrund, dass […]

  2. Leonie B. sagt:

    Was bringt denn dieses ständige Anklagen „der Gesellschaft“`? WER ist denn bitte DIE GESELLSCHAFT? Doch alle und niemand!
    Diese Schuld zu bzw. Abweisung ist doch mittlerweile auch bei Kriminellen sehr beliebt: nicht ich, sondern die Gesellschaft ist schuld! Die hat mich nicht richtig gefördert, hat mich fallen lassen, ausgegrenzt – klar, dass ich so böse geworden bin.

    Was soll denn „DIE GESELLSCHAFT“ machen?

    Es ist nicht DIE GESELLSCHAFT, die nicht einschreitet, wenn Übergriffe passieren, sondern es sind ignorante Mitmenschen beiderlei Geschlechts, die sich nicht einmischen, nichts abkriegen, nichts gesehen haben wollen.
    Dagegen hilft Zivilcourage gepaart mit WISSEN, wie man am besten eingreift: ( z.B. im Bus: indem man konkrete Andere bittet, mitzukommen, die Polizei zu rufen etc.)

    Gefordert sind auch die Mitarbeiter/innen sämtlicher Lokalitäten, erst gar kein „rumrüpeln“ einreissen zu lassen.

    Und ja: diese Gewalt verherrlichenden und Frauen verachtenden Musiker sollten mal in sich gehen und drüber nachdenken, ZU WAS ihr Sound ganz real ermuntert.
    Ganz ebenso sollten die Filmemacher bedenken, dass ihre Bilder von Gewalt immer mehr dazu beitragen, dass sie für „ganz normal“ gehalten, ja sogar als Vorbild genommen wird. Früher war es nicht üblich, zu mehreren auf jemanden einzutreten, der wehrlos am Boden liegt – heute passiert das gefühlt jeden Tag irgendwo. (Wenn man im übrigen Männer pauschal als potenzielle Gewalttäter und Vergewaltiger unter Verdacht stellt, wird das die vielen unter ihnen, denen sowas komplett ferne liegt, kaum dazu ermuntern, einzugreifen.)

    Kurzum: DIE GESELLSCHAFT wird den Teufel tun, man kann die Gesellschaft nicht verhaften, sie nicht verurteilen, nicht mal Schadenersatz von ihr einklagen. Sie ständig anzuklagen kann man sich genauso schenken wie das Klagen über „das System“.

    Es sind immer konkrete Menschen und Gruppen, die zur allgemeinen Verrohung beitragen. Mit ihnen muss man sich anlegen, ihr Fehlverhalten aufzeigen und nicht mehr dulden, ihre Straftaten verfolgen, über ihr miesen Witze nicht mehr lachen, ihre Musik nicht hören.

    Aber das braucht Mut und konkrete Action – wogegen das Schimpfen auf die Gesellschaft einfach ist, aber auch nutzlos.

  3. […] Unsere Kultur der Belästigung und der Tod von Tuğçe Albayrak | shehadistan […]

  4. […] einmal aus einer anderen Perspektive am aktuellen Fall Tuğçe nachvollziehen möchte, kann auch hier noch einmal […]

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