David Foster Wallace wäre heute 51 Jahre alt geworden, wenn er sich nicht im September 2008 in Kalifornien umgebracht hätte. 1996 erschien sein Roman „Unendlicher Spaß“ (Infinite Jest), und „Unendlicher Spaß“ sollte viele Leute fertig machen, unter anderem mich 14 Jahre später. (14 Jahre später deswegen, weil ich 1996 noch niemals etwas von Foster Wallace gehört hatte und damals noch Paul Auster für das Nonplusultra hielt. Harhar.)
Ich würde so gerne ganz genau sagen können, wann genau ich das erste Mal von Foster Wallace gehört habe, und wann von „Unendlicher Spaß“. Ich kann es nicht.
Informationsfetzen über dieses Wunderwerk, dieses Opus Magnum erreichten mich irgendwann wie durch Nebelwände, ich hörte von endlosen Schachtelsätzen, von Fremdwörter-Tiraden, von über tausendfünfhundert Seiten (auf hauchdünnes Bibelpapier gedruckt), und von verworrenen Handlungssträngen, die man nur mit unendlich viel Disziplin schnallen würde, von bergeweise Fußnoten, zum Teil meterlang, und von sechs Jahren Übersetzungsarbeit, und dann schlich ich irgendwann monatelang in diversen Buchhandlungen um diesen Brocken herum, bis ich mich irgendwann 2010 entschloss, einfach mal diese unfassbare Investition zu tätigen (39,95€,), und dann schleppte ich dieses Buch nach Hause, das gefühlt drei Kilo wog.
„Das Buch ist 1646 Seiten dick, und es gibt nicht einen einzigen müßigen Satz… Ich las das Buch mit 25 und ich verbrachte einen Monat mit nichts anderem… Wenn Sie nach einem Monat Lektüre aus diesen Seiten heraustreten, sind Sie ein besserer Mensch. Es ist verrückt, aber auch schwer zu leugnen. Ihr Verstand ist gestärkt, weil er einen Monat lang trainiert wurde, und was noch wichtiger ist, Ihr Herz ist praller.“ (Dave Eggers aus dem Vorwort 2006)
Es gibt eine unfassbar wunderbare Rezension zu „Unendlicher Spaß“ auf dem bösen Kaufportal, das seit letzter Woche so derbe in der Kritik steht, aber ich muss sie hier zitieren, weil sie so formvollendet all das auf den Punkt bringt, was man wissen sollte, bevor man sich entscheidet DFWs aus dem Ruder gelaufenen Superroman zu lesen:
„Für jede Frage, die Sie mit Ja beantworten können, erhalten Sie 1 Punkt:
a) Bei einem Roman schätze ich am meisten treffende Wendungen, die eine Situation, eine Landschaft oder ein Gesicht beschreiben – dies alles möglichst mit der Meisterschaft, wie man sie nur von alten Haiku-Meistern kennt.
b) Ich kann gut damit umgehen, wenn ich einen Autor lese, der über geradezu enzyklopädisches Wissen verfügt und davon rege, gezielt, manchmal aber auch redundant Gebrauch macht.
c) Das Fremdwörterbuch ist mein Freund.
d) Ein Endnoten-Apparat gehört zu jedem modernen Roman.
e) Ich werde nicht gleich selbst depressiv, wenn es den Romanfiguren meist eher mies geht und sie sich selber und gegenseitig das Leben schwer machen (dauernd, ohne Ende).
f) Superrealistische Schilderungen von Erkrankungen oder Suchtproblemen stossen mich nicht ab, sondern wecken mein Interesse.
g) Auch Abhandlungen über Hornhäute, Hypersalivation, Erbrechen, […] etc. können mich nicht schrecken.
h) Ich finde ein Roman darf durchaus die ganzen gesellschaftlichen Gepflogenheiten, das politische, wie das wirtschaftliche System über mehrere 100 Seiten hinweg durch den Dreck ziehen – schliesslich ist es ja angebracht und Hauptsache: gut gemacht.
Hand aufs Herz, wenn Sie nicht mindestens auf 5 Punkte kommen, rate ich Ihnen vom Unendlichen Spass dringend ab. Ansonsten lesen Sie weiter und geniessen gleich vier Amuse-Bouche, frisch vom Herd des Chefs:
– „Er verfügt über jenen seltenen spinalen Sinn für die Schönheit des Gewöhnlichen, den Mutter Natur nur jenen gewährt, die das Gesehene nicht in Worte fassen können.“
– „… im Sprechzimmer seltsam scharf, rein und süss gerochen, das olfaktorische Äquivalent von Neonlicht.“
– „Wenn man auf einem belebten Stadtgehweg die Augen schliesst, klingen die Schritte all der Leute in ihren verschiedenen Schuhen zusammengenommen, als würde etwas von etwas Riesigem und Unermüdlichem und Geduldigem gekaut.“
– „Das Fensterlicht im Zimmer verdunkelt sich zu dem Kaopectate-Ton, der schon immer die Kurz-vor-Sonnenuntergang-Tageszeit gekennzeichnet hat, …“
Und, mit der Hand auf dem Herzen, gestehe ich: Dieses Buch zu lesen fiel mir kein bisschen leicht. Ich brauchte ungefähr fünf Anläufe, obschon ich beim ersten gedacht habe, ich würde es direkt packen (glorreicher disziplinierter Durchlauf bis Seite 300, dann ein Motivationsproblem, dann die erste Niederlage).
Nicht mal während des Studiums habe ich so hart mit einem Buch gekämpft und mir immer wieder auf die Fresse geben lassen (unter anderem, weil ich den bösen Anfängerfehler machte, die oben erwähnten ellenlangen Fußnoten zum Teil zu ignorieren), niemals zuvor fiel mir Aufstehen nach dem Leseversagen immer wieder so schwer, und teilweise hasste ich dieses vorwurfsvoll herumliegende Buch mehr als einen liegen gebliebenen Abwasch, mehr als ungebügelte Wäsche, mehr als unerledigte To-Do-Listen.
Ich hasste es teilweise so sehr, dass mir „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vorkam wie ein erquickender Waldspaziergang, während „Unendlicher Spaß“ mir erschien wie eine Tour auf den Mount Everest in Flip Flops. Ich legte Notizbücher an um Handlungsstränge nachzuzeichnen, um nach Wochen der Vermeidung wieder sinnhaft an der letzten gelesenen Stelle einsteigen zu können, und ich wollte damit natürlich Foster Wallace verarschen, nur hatte der Halunke wohl auch mit solchen Hallodris wie mir gerechnet und anscheinend alle meine Cheat-Manöver mit eingeplant, und deswegen konnte ich nie wirklich da weitermachen, wo ich vorher zuletzt aufgehört hatte.
Ich hasste James O. Incandenza, der die im Roman auftauchende Enfield-Tennisakademie gegründet hatte, und ich hasste Tennis, beziehungsweise, dass Mittelstandskinder zu Sportprofis herangezogen wurden, und ich hasste den Typen der auf seine Gras-Dealerin wartete und dabei gefühlt tagelang ein Insekt beobachtete, und ich hasste Foster Wallaces poststrukturalistischen Kniff, einfach mal eine eigene Zeitrechnung zu erfinden (zum Beispiel: „Das Jahr des Tucks-Hämorrhoidensalbentuch“). Und aus Hass wurde Hassliebe, und aus Hassliebe irgendwann Liebe, und als ich irgendwann das Ende erspähte setzte die Verzweiflung ein: Was sollte ich tun, wenn ich fertig wäre mit diesem riesengroßen Kiefernbrecher, der als Buch getarnt war? Die Antwort: Nichts. Denn ich tat nichts. Und mir fehlen bis heute etwa zweihundert Seiten.
Und ich bilde mir ein, dass ich sie in in Kürze bald lesen werde, aber das werde ich auf die Schnelle nicht tun, denn dann kommt es mir so vor, als ob ich ganz schnell auf einem Berggipfel stehen würde, und das Einzige was ich von dort aus noch tun könnte wäre heruntergucken.
Ist es nicht, neben all den schlechten Drecksbüchern die man noch in den Händen halten wird, irgendwie schön, dass man weiß, dass man noch ungelesene Seiten eines der besten Romane aller Zeiten im Vorratsschrank hat? Dass man, auch wenn David Foster Wallace nie wieder ein Buch schreiben wird, noch ein bisschen von ihm auf Lager hat?
Und ich warte einfach auf die Übersetzung von „The Pale King“, und bis dahin lese ich gerade noch „Vergessenheit“, und alles andere was ich von David Foster Wallace noch nicht gelesen habe (es ist bald leider nicht mehr allzu viel). Und wenn ich groß bin, und wenn ich es mir irgendwann abgerungen habe, die letzten Seiten „Unendlicher Spaß“ zu lesen… Dann hole ich mir die englische Originalausgabe und lese sie in einem Rutsch. Oder, wenn ich ganz ehrlich bin: In fünf Anläufen. Oder mehr.
Ich fühle mit dir. Ich hab ca. 5 Anläufe gebraucht und bin auch kaum über Seite 300 gekommen und immer wieder von vorne Anfangen, weil man nicht mehr weiß wovon das Buch eigentlich handelt und wer wieso gerade welchen J raucht. Ich begann auch den dummen Fehler es mir nur auf Englisch zu holen. Der 5. Versuch war auf Deutsch und ich verstand das ich zu recht nichts verstand. Ach, Wallace.
Du solltest Dich mit Kotzendes Einhorn zusammen tun und ihr könntet nochmal das 100 Tage Projekt neu aufziehen!
nun, das erinnert mich ein wenig an meine Monate- bis jahrelange Musil-Lektuere, die in echtem Interesse begann und damit endete sicherzustellen, derjenige zu sein, der es am laengsten ausgehalten hatte, bis heute traf ich niemanden, der es beyond Seite 450 oder so schaffte, ich lag weit jenseits der tausend..(und ja, daraufhin bewarb ich mich an akademischen Eliteinstitutionen um eine nicht-PhD in Rekordzeitlaengen zu schreiben).
Der Mann ohne Eigenschaften? Das hebe ich mir auf falls ich mir mal im Skiurlaub das Bein breche und dann sechs Wochen das Bett hüten muss. (Zum Glück fahre ich niemals in‘ Skiurlaub. Puh.) 😉