David Foster Wallace: Der bleiche König und der Wille zur Wirklichkeit

Bild: Kiepenheuer und Witsch

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Posthum ist David Foster Wallace letzter Roman „The Pale King“ nun auch in der deutschen Übersetzung erhältlich. Vor seinem Suizid am 12. September 2008 hinterlegte er für seine Frau ein Manuskript, 250 Seiten, ordentlich gestapelt – und zusätzlich dazu in seinem Garagenbüro Tausende von Seiten, in Heftern und Ordnern und auf Festplatten und digitalen Speichermedien konserviert. Jahrelang hatte er es nicht geschafft, diesen dritten Roman fertig zu stellen – dieser Aufgabe mussten sich letzten Endes die Nachlassverwalter annehmen, die die umfangreichen Fragmente durchdacht zusammen puzzelten. Das Ergebnis ist groß.

„Er hinterließ seine Notizen und die fertigen Kapitel in einem ordentlichen Stapel in der Garage, in der er arbeitete. Und seine Lampen waren eingeschaltet und beschienen die Arbeit. Ich habe also keinerlei Zweifel daran, dass er es so wollte. So ordentlich hat David selten etwas hinterlassen.“ (Karen Green)

„Das Kunststück, auf gar nicht langweilige Weise über den langweiligsten Arbeitsplatz [Anm.: die amerikanische Steuerbehörde] der Welt zu schreiben“ – so wird „Der bleiche König“ auf der Verlagsseite angekündigt. Das stimmt, aber auch nicht ganz, denn teilweise  wendet Wallace – wie auch schon in anderen Werken zuvor – den Königskniff an, seine Leser_innen eben jene Langeweile, wie die von ihm gezeichneten Figuren sie erleiden müssen, nachfühlen zu lassen. Würde das nicht gelingen, wäre es auch kein echter Wallace, sondern eher ein unterhaltsamer Ford, in dem einem Frank Bascombe, der Sportreporter/Immobilienmakler/Imbisswagen-Franchiser ist, trotz aller Banalitäten des Arbeits- und Alltagslebens ein ausgefülltes und unterhaltsames und fast schon erquickendes Dasein beschert ist. Sowas gibt es bei Wallace nicht geschenkt: Arbeit als neo-liberale Versuchung der individuellen Selbstverwirklichung ist hier aus. Stattdessen wird sich den tätigen Subjekten, die sich buchstäblich an ihr „abarbeiten“ – tatsächlich allzumenschlich – genähert.

Der Bleiche König

Der Hass auf die Arbeit, so schrieb Wallace damals in „Unendlicher Spaß“, gehöre eben zur Arbeit dazu. Aber in „Der bleiche König“ geht es nicht um Hass. Es geht um Langeweile, Undurchsichtigkeit, Eintönigkeit, Verknöcherung, Lethargie und Stumpfsinn. Und um all das bildhaft zu manifestieren geht es um Formulare, Ziffern, Akten, Verordnungen, Ergänzungseinkommenssteuerformulare, Revisionsgruppen und -blöcke, Verwaltungsstrukturen und Bücherprüfungen, Datensysteme und Systemfehler von Datensystemen – und natürlich die Menschen, die sich innerhalb dieser Dinge und Verordnungen bewegen müssen. Es geht im weitesten Sinne mit großer Verwunderung um das, was die Grundvoraussetzung für protestantischen Arbeitsethos ist, und zwar angenommen für eine Menschenwelt, die längst nur noch Bürokratie ist:

„Der Schlüssel, der der Bürokratie vorausgeht, ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt. Gewissermaßen ohne Luft zu atmen.

Der Schlüssel ist die Fähigkeit, ob angeboren oder erworben, die andere Seite der Routine zu finden, des Nichtigen, des Bedeutungslosen, des Repitiven, des sinnlos Komplexen. In einem Wort, unlangweilbar zu sein. (…) Das ist der Schlüssel zum modernen Leben. Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.“ (§44)

Wallace hat mit seinem letzten Werk ganz einfachen Angestellten quasi ein Denkmal gesetzt, indem er Steuerleute als Behördenhelden skizziert: Als „Menschen, die noch heldenhafter sind, weil niemand ihnen applaudiert oder auch nur einen Gedanken an sie verschwendet“, als „die schweigende Mehrheit, die sauber macht und die Drecksarbeit erledigt“ (§17) – fernab umfangreicher Lohn-Verdienste oder großer Scheinwerfer. Und hinter all dem steht die große Frage: Warum tun sie was sie tun, und wie halten sie das aus?

„Der bleiche König“ spielt in den  80ern, in der Hauptsache in einem Steuerprüfzentrum des IRS (International Revenue Service) in Illinois. Wie gehabt muss man als Leser_in mit den üblich-literarischen Wallace-Gepflogenheiten leben: Es gibt keine Hauptfiguren und keinen wirklich konsistenten Handlungsstrang, aber absichtliche Verwirrungen, lange Fußnoten, Rückblendungen und Aussparungen (die zum Teil taktisch sind). Die Personen des Roman-Kollektivs, die im Laufe des Buches teilweise bis ins Unerträgliche detailliert ins Romangeschehen eingeführt werden (wie etwa in dem 107 Seiten langen Werdegang des Steuerprüfers Chris Fogle), beginnen sich irgendwann zu vernetzen – aber nicht alle. (Das macht die Lektüre natürlich kniffelig, aber das kennen wir ja schon.)

Dementsprechend gibt es auch keine große Geschichte, sondern ein paar Dutzend kleine, die sich zwar nicht zum Ganzen fügen, aber erahnen lassen, dass „die verzweifelte Suche nach dem Ganzen“ (Übersetzer Blumenbach) bei „Der bleiche König“ Pate stand. Ein Trupp Mitarbeiter_innen in einem Steuerprüfzentrum, ein kleines Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, das später im IRS arbeiten soll, eine Busfahrt nach Peoria/Illinois, bei der über Steuersysteme im Großen und Prüfungen im Allgemeinen und Speziellen gefachsimpelt wird („Die wichtigste Komponente bei der Organisierung einer Struktur für effizientes Lernen ist“: allerhand), „Konfuse Faktenintuition“ und die Datensammlung über den Direktor des Steuerprüfzentrums Witt Glendenning (der aufgrund seines Spitznamens der Namensgeber für „Der bleiche König“ ist) – und alles ist so lebensnah beschrieben, dass man es manchmal kaum noch aushalten kann.

Will sagen: Man kann nach der Lektüre des Brockens durchaus kurzzeitig den Eindruck haben, man kenne beispielweise Claude Sylvanshine, der den Vortrupp eines versetzten Geschäftsführers der Personal-System-Abteilung bildet, besser als die eigene Mutter. Wie mit einem doppelten Brennglas legt Wallace die Konzentration auf die Figuren und ihr Innenleben, jeder noch so kleine Furz (ja, Entschuldigung) wird unter die Lupe genommen, mit einem fast schon grenzenlosen Willen zur Wirklichkeit, was für jeden modernen und Kompexitätsreduktion-gewohnten Menschen durchaus eine positiv-faszinierende, aber auch anstrengende Erfahrung sein kann – und erahnen lässt, welche Beobachtungsgabe Wallace in seinem (offensichtlich gigantischen) Denkapparat beheimatete.

Und überall setzt immer wieder Wallace ganz eigener Humor ein: Die meisten Leser_innen werden aufgrund der Fülle der Informationen, der Sprünge und der abrupten Themenwechsel ebenso wie die porträtierten Steuerprüfzentrumsmitarbeiter_innen höchstwahrscheinlich unfähig sein, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden – und müssen so dann eben einfach alles auf sich einprasseln lassen. Zwischendurch gibt es fast schon unverhohlen Zitate aus Wallace-Vorwerken, wie etwa in §29, wo es um „Scheiße“ (im Sinne von Kot) geht – aufmerksame Leser_innen erinnern sich vielleicht noch an die Erzählung „TV der Leiden – The Suffering Channel“ aus „Vergessenheit“, in der der Reporter Skip Atwater eine Story über einen Künstler auf den Weg bringen will, der in der Lage ist Kunstwerke buchstäblich auszuscheiden.

Und dennoch, natürlich gibt es viele ausgereifte Philosophien und Überlegungen und Fragen in dem letzten letzten DFW-Opus Magnum: Es geht um Menschen, die weite Teile ihrer Lebenszeit, all ihre Tage, Minuten und Stunden komplett in einem Hamsterrad aus sinnlosen Verwaltungs- und Überprüfungsstrukturen verbringen, so dass es am Ende oft nur noch für Aussagen wie diese hier reicht: „Ich glaube, ich kann nichts sagen, was nicht im Handbuch oder in den Dienstvorschriften steht“ (§14). Woher kommen diese Menschen? Was bringt sie dazu, ihre Seele an fade Ödnis zu verkaufen? Was macht die Struktur der Langeweile mit ihnen? Wallace zeigt es uns in 49 Paragraphen, die sowohl als großes Ganzes, als auch geschlossene Einheiten funktionieren. (Dementsprechend ist es auch eigentlich ziemlich egal, wo man anfängt zu lesen. Rückwärts wäre auch eine Option.)

Aber warum diese Faszination für den Stumpfsinn? Wallace, der sich im Buch den Spaß erlaubt, sich unter anderem selbst als Autor (David Wallace, der „echte“ (§9)) in den Roman einzuführen und in ellenlangen Fußnoten herumscherzt „[d]amit sie nicht völlig perplex und gelangweilt sind“ (um dann ungerührt weiter seitenlang über „Datenkumplatsch“ zu referieren), stellt sich selbst die Frage:

„Und seit jener Zeit ist es mir immer wieder aufgefallen, bei der Arbeit, in der Freizeit, wenn ich mit Freunden zusammen war und sogar in der Vertrautheit des Familienlebens, dass der Stumpfsinn für lebende Menschen kein Thema ist. (…) Warum dieses Beschweigen? Vielleicht liegt es daran, dass das Thema an und für sich stumpfsinnig ist… nur beißt sich das Argument dann in den Schwanz, und das ist ermüdend und verdrießlich. Meiner Meinung steckt mehr dahinter… weitaus mehr, direkt vor unseren Augen, aber seiner Größe wegen verborgen.“ (§9)

Dabei ist die Langeweile seit jeher immer wieder Gegenstand philosophischer und literarischer Überlegungen gewesen. Heidegger teilte sie in drei Phasen auf (Langeweile mit identifizierbarem Grund, Langeweile, die keinem eindeutigen Grund zugeordnet werden kann, gänzlich anonyme Langeweile ohne jedweden Grund), Blaise Pacal empfand sie als so nutzlos, dass ihm nur literarische Schlagworte zu ihr einfielen („Nichts“, „Unzulänglichkeit“, „Ohnmacht“, „Leere“, „Traurigkeit“, „Kummer“, „Verzicht“, „Verzweiflung“), und Nietzsche hielt sie unter anderem für eine besondere Fähigkeit der „feinsten und tätigsten Tiere“.

Wallace aber operierte komplett woanders, und zwar indem er (und zwar nicht nur im buchstäblich literarischen Sinne) ganz in eine der Brutstätten eintauchte, in der Langeweile nicht durch Untätigkeit, sondern durch Tätigkeit entsteht: „Im Hintergrund lauerte aber immer die Frage nach einem neuen Roman, über den sich David nur ungern äußerte. (…) Manchmal bekam ich Informationen von seiner Agentin Bonnie Nadell: David besuche im Rahmen der Recherchen Buchhaltungskurse“, so sein Lektor David Pietsch im Nachwort.

Somit machte Wallace eigentlich da weiter, wo Kafka, der ja in seiner Amtslaufbahn als Versicherungsmann kurzzeitig unter anderem auch bei Generali-Versicherungen angestellt war und über genaue Kenntnisse seines Metiers (hier: der industriellen Produktion und Technik, Unfallverhütungsvorschriften, Unfallversicherungsregelungen, Versicherungstechnik u.ä.) verfügte, seinerzeit aufgehört hatte: Bei der Rückübersetzung entfremdeter Arbeitsverhältnisse in eine literarische Form. Wie bei Kafka bewegen sich Wallace‘ Figuren durch undurchsichtige Verhältnisse, die zwar von Menschen gemacht, jedoch so vollkommen außer Kontrolle geraten sind, dass sie wie anonyme Mächte ohne wirklichen Zentralapparat wirken. Unübersichtlichkeit und die Unverbundenheit von Schauplätzen und Menschen sind die einzigen Konstanten in Zuständen, die gleichzeitig gigantisch und trostlos wirken.

Und was bleibt nach der Lektüre? Die Feststellung, dass „Der bleiche König“, dieses unfertige Werk, diese Collage von Skizzen, wie zu erwarten eins der besten Bücher der letzten Jahre ist. Ohne Weltschmerz, dafür mit dem größtmöglichen Interesse für die Mechaniken kompletter Auslieferung.

[Und ein Hinweis in eigener Sache: Ich las „Der bleiche König“ zum Requiem for a Dream-Soundtrack, was bei mir sehr gut funktionierte – und vielleicht auch einigen anderen durch die Lektüre hilft.]

2 Gedanken zu „David Foster Wallace: Der bleiche König und der Wille zur Wirklichkeit

  1. Hila sagt:

    Wann gibst Du endlich zu dass Du ein totaler N<3rd bist? 😀

  2. Chris sagt:

    Du hast es schon durch? DUUU STREHEEEBEEERIIIIN! 🙂

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