Wenn die Presse einen Drei-Stunden-Schinken über den Pudding lobt, ihn als neuen Meilenstein der Filmgeschichte abfeiert und selbst der Spiegel fast zu Tränen gerührt über den „Triumph der Beharrlichkeit“ schreibt, dann sollte man sich doch vielleicht fragen, ob es sich wirklich lohnt einen kleinen Batzen Euros (Überlänge) für ein Filmerlebnis hinzublättern, das einem zeigt, was man mehr oder weniger selbst schon alles durchlebt hat (nämlich mehr oder weniger: die Jahre 2001 bis 2013). Doch vorweg die gute Nachricht: „Boyhood“ lohnt sich. Wirklich!
Um jedoch erstmal zu verstehen, was eins der Grundprobleme von „Boyhood“ ist, genügt es zunächst, sich den Film in einem unterbesetzten Kinosaal anzuschauen, am besten: werktags, nachmittags, vorzugsweise in einer eher beschaulichen Stadt. So begab es sich in meinem Fall dass ich mir einen recht imposanten Kinosaal mit zwei Rentnerpaaren, die wahrscheinlich auch vom Meisterwerksgeschwafel ins Kino gelockt worden waren, teilte. Ich gab ihnen während des Drei-Stunden-Marathons Spitznamen: Käthe, Gisela, Franz-Josef, Adalbert, Hannelore, Hans-Joachim, mehr als vier insgesamt und immer wieder andere, da ich ständig vergaß wer Käthe und wer Gisela war und ich zudem ja damit beschäftigt war, „Boyhoods“ langwierigen Entwicklungssträngen zu folgen – der Film wurde ja schließlich nicht umsonst zwölf Jahre lang von Regisseur Richard Linklater gedreht. „Ich gehe hier ja gerne ins Kino, weil ich weiß, wie die Sitze sind. Bei den anderen weiß ich das ja immer nicht“, merkte Käthe aus der Reihe vor mir bereits während der Filmvorschau an – die wahren Pros wissen eben, was bei stundenlanger Vorführdauer zu beachten ist.

Sie lachten nicht über den Gotye-Joke, aber sie erkannten, dass Ethan Hawke immer der etwas schleimige Versager-Typ vom Dienst bleiben wird.
Und die Geschichte von „Boyhood“ ist an sich auch recht schnell erzählt: Hauptfigur ist Mason, ein kleiner Dötz, der im Verlauf des Films heranwächst, und zwar inmitten mehrerer chaotischer Familienkonstellationen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern: Seine Mutter Olivia (Patricia Arquette) lebt mal mit, mal ohne Mann, aber von Anfang an ohne den Kindsvater (Ethan Hawke), der im Film die typische Ethan-Hawke-Rolle (Schmerzensmann, Gitarre & die Frage nach dem Sinn des Lebens) ausfüllt. Seine ältere Schwester Samantha wird konsequent nervig von Lorelei Linklater, der Tochter des Regisseurs, gespielt, und somit hat man eigentlich auch schon alle Schauspieler_innen beisammen, die es die gesamten zwölf Jahre Drehzeit miteinander aushalten mussten. Zwischendrin wird umgezogen, gestritten, es werden Schul- und College-Abschlüsse erworben, Häuser gekauft, ein Baby gezeugt, gekifft und getrunken und wegen eines Abschlussballs gestritten und außerdem ein Auto, das der Schmerzenspapa eigentlich dem Schmerzenssohn zum Abschluss schenken wollte, verkauft. Viel Plätscher, ab und zu Drama. Wie das echte Leben eben.
Schon zu Beginn des Films macht es jedoch einigermaßen Sinn, mit dem cis-männlichen Jammerlappen-Jargon der Kulturszene der letzten zweieinhalb Jahrzehnte irgendwie vertraut zu sein: Filmisch verkörpert wird es wie gesagt (mal wieder, oder, wie fast immer?) von Hawke, der den Schmerzenspapa gibt, der das Erwachsenwerden zugunsten des Berufsjugendlichentums zum Großteil auf Kosten seiner Ex-Partnerin so weit es geht verschiebt, dabei aber irgendwie total sympathisch ist und seine Kinder total liebt und sich aber – was ja ganz wichtig ist – erstmal irgendwie selbst finden muss… und so weiter, und so fort, man kennt es.
Pop-Zitate? Machen halt nur Sinn wenn das Publikum sie kennt.
Musikalisch untermalt wird das Ganze dann zum Beispiel vom Ein-Mann-Heulbojen-Chor Chris Martin (zuletzt negativ aufgefallen mit einer Rotznasen-Platte, die nichts als Trauergesänge für seine Ex-Frau Gwyneth Paltrow beinhaltete): Wenn „Yellow“ in der Anfangsszene erklingt, und während Martin noch „For you, I’d bleed myself dry-hyyy“ jammert, da weiß man schon, dass das eins der ersten Schnitzel in einer langen Liste von Popkulturzitaten sein wird, die man erstmal verstehen muss weil man irgendwie damit sozialisiert wurde – was traurig für alle anderen unbeteiligten Zuschauer_innen ist, weil damit schon das meiste des aufdringlichen besonderen Witzes, den Boyhood ausmachen könnte, abgefrühstückt ist.
Denn so geht es weiter: Harry Potter-Buch-Premieren-Partys, Twilight, Seth Rogen-Filme, Lady Gaga-Musikvideos, Skype auf Smartphones, „Somebody that I used to know“ oder Will Ferrell in „Good Cop, Baby Cop“ – wie mit dem Zaunpfahl wird einem von Szene zu Szene die aktuelle Zeitrechnung des Films aufs Butterbrot geschmiert. Das hat durchaus zwischendurch auch einen gewissen Charme, zum Beispiel dann, wenn Masons Schwester zu Beginn der Geschichte ihren Bruder mit einer penetranten Gesangsperformance von Britney Spears „Oops I did it again“ nervt – der Film wird damit aber mit Sicherheit nicht auf den Olymp der Alltime-Klassiker gehoben, da nicht jedermann jederzeit die Hinweise dekodieren (und damit witzig finden) kann. Und ob sie tatsächlich alle so witzig sind, das ist dann tatsächlich auch die nächste Frage.
Käthe, Herrmann und Albrecht in meinem Kino lachten auf jeden Fall bei denen anscheinend auf „Brüller“ geplanten Szenen selten bis gar nicht, Hannelore wollte sich aber auch jeden Fall auch dieses Video-Dings auf dem Smartphone installieren, und Ethan Hawke kommt bereits in den ersten 20 Minuten nicht gut weg: „Der, der wird doch nie aus dem Quark kommen!“ Immerhin: Wie wahr, wie wahr.
Patricia-Hood
Ansonsten wäre „Boyhood“, wenn denn der kleine Mason nicht wäre, nicht nur ganz prima, sondern tatsächlich ein herausragender Film. Mason ist nämlich sowas wie der James van der Beek bei Dawson’s Creek: Völlig überflüssig bei totalster Hauptrolle. Deswegen kann man gar nicht in Worte fassen, welch wichtige Rolle Patricia Arquette in dem Film hat: Ihr Beitrag zum Gelingen des Films ist so groß, dass man ihn meinetwegen auch „Patricia-Hood“ nennen könnte. Da, wo die meisten Figuren (Mason!) oft merkwürdig farblos bleiben und mit reiner Anwesenheit glänzen, haucht Arquette nahezu jeder Szene in der sie auftaucht unendlich viel Leben ein – auch, da sie im Film diejenige ist, die die schwierigsten Entscheidungen alleine treffen und zugunsten aller Beteiligten die größte Existenzentwicklung durchmachen muss, während alle anderen irgendwie die meiste Zeit die Füße hochlegen können, denn: Mutti wird es schon richten!
Sie trennt sich immer mal wieder von irgendeinem Typen aus der „Parade der saufenden Arschlöcher“, ist zuvor mit ihren Kindern aus der scheinbar perfekten Patchworkfamilie geflüchtet als der Ehemann gewalttätig wurde, hat ihren College-Abschluss hinter sich und insgesamt lange Erziehungsjahre von insgesamt drei Kindern (Mason, Samantha und, last not least, Kindspapa Hawke), und zwischendurch weiß man auch nicht mehr so genau ob sie aufgrund der Zeitsprünge oder der Umstände in manchen Szenen scheinbar innerhalb von Sekunden altert.
In einer Szene sitzt sie verzweifelt am Küchentisch während sie dabei ist, diversen Hausrat im Internet zu verscherbeln: „Ich habe das Gefühl“, seufzt sie da, „dass ich 15 Jahre meines Lebens damit verbracht habe dieses ganze Zeug hier anzusammeln, und jetzt werde ich die nächsten 15 Jahre damit verbringen, es loszuwerden!“ Und Gertrud, Käthe, Hans-Otto, Albrecht und ich freuten uns über diese Weisheit und lachten und wussten: zumindest das ist einige der wenigen Szenen in „Boyhood“, an die man sich bestimmt noch oft erinnern kann.
Köstlich! Leider weiß ich nun nicht mehr, ob ich mir den Film noch anschauen werde…
Du bist ein Schmerzfilmkritiker.
hab mich selten so gelangweilt… bin froh, dass ich den film kostenlos gesehen hab.
ansonsten hätte ich mir mein eintrittsgeld zurückgeben lassen.