Die Differenzierung zwischen Cis-Männlichkeit und cis-männlicher Gewalt war nie falsch. Aber sie war unvollständig. Mit der Entlastung der moderaten Mehrheit aller Cis-Männer hätte viel früher auch eine Forderung einhergehen sollen, nämlich jene, dass die Cis-Männlichkeit sich selbst darüber erforscht, welche Inhalte, welche patriarchalen Macht- und Gewaltstrukturen, welche geistigen Verkrustungen und welche Anachronismen selbst moderater Cis-Männlichkeits-Lesarten es sein könnten, die junge Cis-Männer irgendwann  Menschen mit Waffen niedermetzeln lässt. Denn so falsch es ist, Cis-Männlichkeit mit cis-männlicher Gewalt gleichzusetzen, genau so falsch ist es, jede Verbindung zwischen ihnen zu leugnen.

In dieser weithin unterschlagenen Debatte, in der Angst vor einer begründeten Kritik am Patriarchat in Parlamenten, Redaktionen und Universitäten (etc.), liegt das vielleicht größte Versäumnis auch der Terrorprävention der vergangenen anderthalb Jahrzehnte – sei es nun angesichts der schrecklichen Attentate, die Anders Breivik in Norwegen verübte, bis hin zu den fürchterlichen Anschlägen von Paris in dieser Woche. Es war ein Versäumnis aus dem Optimismus heraus, dass die Verursacher von cis-männlicher Gewalt auf Dauer schon isoliert und marginalisiert würden, wenn die moderate Cis-Männlichkeitsmitte stabil und unterstützt bleibt.

Dieses Wunschergebnis ist aber nicht eingetreten. Die cis-männliche Bewegung ist im Gegenteil stärker geworden, sowohl national wie international. Typisch cis-männliche Gewalt, so wie sie sich vor allem als physische Kraft entfaltet, hat nicht nur Länder erobert, sondern auch die Popkultur, und es ist eben keine Fantasiemacht, auf die ein Großteil der cis-männlichen Personen ihre Gewalttaten stützt, sondern eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache, dass vor allem physische Gewalt oft ein cis-männliches Spezialgebiet ist (und zwar universell und global).

Genau dies ist aber die Zumutung, die der Cis-Männlichkeit auferlegt werden muss, wenn sie wirklich zu einem Teil der Überwindung von Gewaltstrukturen werden will. Und sie müsste mindestens soweit reichen, die eigene Verantwortung einzugestehen. Diese Zumutung hätte viel früher formuliert werden müssen. Es nützt nichts, Lessings Ringparabel hochzuhalten, wenn am Ende nur der Vortragende tolerant bleibt. (Zwar sind nicht alle Cis-Männer Terroristen, aber fast immer ist es so, dass Terroristen Cis-Männer sind.)

Was genau würde die Zumutung der Aufklärung für die Cis-Männlichkeit bedeuten? Neben der Verwirklichung von unzweifelhafter Gleichberechtigung (es gibt sie in patriarchalisch organisierten Gesellschaften nicht) gilt vor allem eins: den Abschied vom Patriarchat als Weltordnungsidee.

Die Vorstellung, dass die Welt vor allem auch dann friedlich wäre, wenn die Welt nicht mehr durch patriarchale Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse bestimmt würde, ist eben nicht radikal, sondern unabdingbar. Man kann diesen Anspruch als historisch abtun. Genauso gut kann man ihn aber zur politischen Kampfansage gegen männliche Gewalt aufpumpen – und genau das sollte immer und immer wieder geschehen. Um es deutlich zu sagen: Cis-Männlichkeit, auch moderate, ist noch immer zu oft eine Rutschbahn in die Entfremdung von einer Lebensweise, die eine Abkehr von Gewalt und emanzipatorische Bewegung anstrebt.

Es sind diese gefährlich unhinterfragten Tiefenströmungen einer kulturellen Ausformung, an denen Kritik an Cis-Männlichkeit ansetzen darf und muss, sowohl von innen wie von außen. Bis dahin wird die Trennung von Cis-Männlichkeit und cis-männlicher Gewalt das bleiben, was sie viel zu lange war: ein beschwichtigendes Mantra.